Stand der westlichen Welt

In unserer Kultur gibt es ein Phänomen, das wir in uns selbst kaum erkennen: wir leben überwiegend aus dem Kopf und aus dem Denken heraus. Unsere Kultur scheint schon seit Anbeginn recht verstandesorientiert zu sein. Das planerische, forschende Denken hat uns geholfen, die äußere Welt so zu errichten, dass wir heute in Frieden und Wohlstand leben. Auf Kosten anderer Kulturen, der Natur und der Planetin Erde. Durch das Aufkommen des Internets und die Verbreitung der mobilen Medien hat die Konzentration im Denken, im Raum des Kopfes, noch weiter zugenommen. Wem es gelingt, aus den Räumen des Denkens zu treten, spürt, dass unter hundert Menschen im öffentlichen Begegnen kaum eine oder einer zu finden ist, der im Raum des Körpers oder im Raum des Herzens weilt und aus diesem heraus spricht, schaut, agiert.

Unsere Kultur hat den Intellekt auf die Spitze getrieben und scheint kollektiv dafür vorgesehen zu sein, zu erkennen, dass uns das alleinige Denken zugrunde richtet. Schon Jugendliche nehmen heute Pharmazeutika zu sich, am Sonntag stehen die Menschen an den Bahnhofsapotheken Schlange, Burnout und chronische Krankheiten sind weit verbreitet, jeden Tag gucken wir viele Stunden in Bildschirme und befüllen unseren Geist mit fremden Worten, unsere Sinne mit fremden Bildern, unser Fühlen mit fremden Emotionen und unseren Körper mit Zucker und Kaffee. Internetpornographie hat einen festen Platz im Leben der meisten westlichen Männer eingenommen und jeder zweite Jugendliche spielt gewalttätige Computerspiele. Für viele junge Menschen hat das Interesse am anderen Geschlecht in der realen Wirklichkeit nachgelassen. Im Erwachsenenalter halten Beziehungen oftmals noch nicht einmal bis zur Reife der eigenen Kinder.

Wir leben aus dem Denken heraus, suchen Lösungen im Denken, folgen sogleich nach dem Aufwachen einem inneren Plan und kennen Tag für Tag vor allem zwei Zustände: innere Unruhe, inneres Angetriebensein oder Erschöpfung. Das In-sich-Ruhen, das tiefe, erfüllte Sein und Tun aus der inneren Mitte heraus, scheint uns abhanden gekommen zu sein.

Von den sechs Grundgefühlen des Menschen: Angst, Wut, Freude, Leid (tiefe Stimmung), Traurigkeit und Liebe sind nur zwei kollektiv als erwünscht bewertet und die anderen vier als ‹negative Emotionen› abgelehnt. Wir verkennen die Weisheit des Fühlens, sehen nicht den Sinn der Grundgefühle und wissen so nicht, wie wir uns vom eigenen Fühlen leiten lassen könnten. Die verstandesgeprägte Meinung zum Leben aus dem Fühlen heraus ist: «Dann würde ich tun, was mir Spaß macht, und mein Leben würde verkommen.»

Wir Menschen können unsere Stimmung willentlich heben und auch für eine Weile gehoben halten. Es kostet Energie, doch es geht. Wir zeigen so nach außen nicht unbedingt das Gefühl, das dem Moment und dem wahren inneren Stand entspricht. Spüre einmal, ob der Mensch vor dir mit angehobenen Mundwinkeln auch innerlich lächelt.

Ein Folge-Phänomen ist das Aufstauen von Emotionen. Da wir das Ausdrücken der unerwünschten Gefühle Angst, Wut, Leid und Traurigkeit zumeist willentlich zu unterdrücken suchen, schieben wir in Momenten, die natürlicherweise einen Gefühlsausdruck hervorbringen würden, die aufkommenden Gefühle ins Unbewusste, wo sie sich nach und nach verfestigen und so auf Dauer einen nur noch schwer zu durchdringenden Emotionskörper bilden. Als Folge davon findet der alltäglich natürlich lebendige Gefühlswechsel kaum noch statt.

Unsere westliche Kultur würde erblühen, wenn wir die Unterhaltungsprogramme abschalten würden, unseren Körper auch im Alltag wieder empfinden würden, lernen würden zu fühlen, die Gedanken in uns zu hören, lernen würden zu spüren, das Fühlen und Spüren zu Hilfe zu nehmen, um zwischen eigenen Gedanken und dem kollektiven Strom zu unterscheiden, wenn wir wahrnehmen würden, wann das eigene Herz offen ist und wann es sich schließt, wenn wir Denken und Fühlen in uns wieder in Liebe verbinden würden. Wir würden in Stärke und Weisheit leben und in der Welt wiedergutmachen, was wir in den letzten zweitausend Jahren angerichtet haben.

Jahn Christoph, 9.2.2020